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Da steht er nun! Mit großen, müden Augen, einen ganzen Ozean im Blick. Er spürt die Gischt, die ganze natürliche Macht des Atlantiks. Er steht genau dort, wo er seit über dreißig Jahren steht, wenn sie nach Paris gut durchgekommen sind und er die Macht und die Gischt spüren möchte. Er fühlt sich dann klein, genauso wie sich alle Sorgen in ihm klein anfühlen, weil alles um ihn herum so grenzenlos und groß ist. Ganz weit weg. Ländergrenzen voneinander entfernt. Über tausend Kilometer. Er erinnert sich, an all die Male, die er schon an diese Düne kam. Als Sohn, als Mann, als Vater. Alleine, mit Freunden, seiner Exfrau, seinen Söhnen und seiner Exfrau, nur seinen Söhnen, wegen seiner Exfrau, wegen was auch immer. Immer ein anderer, immer der gleiche Ort. In seiner Routine fand er das Glück. Immer war sie da, wenn man zur richtigen Zeit an diesen Ort ankam, jene vertraute Müdigkeit, die alles in einen Schleier hüllt, ein edles Gewand, gemacht aus Vorfreude und Erwartungen, Nebel und den ersten Strahlen, einer sich durch die Wolken kämpfenden Sonne. Es ist eine wunderbare, eine wache Müdigkeit, die alles unwirklicher werden lässt. Zauberhaft. Den Nebel nebliger, die Wellen größer, die Probleme kleiner, den Morgen früher, die Fahrt länger und die Gedanken leichter. Eine Müdigkeit, die langes Träumen bedeutet.

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Zweimal im Jahr kommt er hierher. Ostern und im Herbst. Seit 40 Jahren. Um zu finden, was er vor 40 Jahren an diesem Ort zurückgelassen hatte, etwas von sich selbst, etwas, das er nur wiederfinden kann, indem er immer wieder an diesen einen Ort zurückkehrt. Und er teilt dieses etwas mit seinen Söhnen, so wie sein Vater dieses etwas mit ihm teilte. Am liebsten hat er den Herbst. Dann kommt der Wind vom Land und wird von den Pinienwäldern frisch gewaschen. Die Luft riecht dann noch ungeatmet. Er liebt diesen Augenblick, will ihn einfrieren, anhalten, in die Länge ziehen, mit seinen Söhnen teilen, einpacken und ein Stück von ihm wieder mit nachhause nehmen.

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Von ihm zehren, bis der Moment in ihm und aufgebraucht ist, die Erinnerungen im Alltag verblassen und es ihn wieder loszieht. Wieder für diesen einen Moment. Wieder zehn Stunden fahren, wieder durch die Nacht, wieder viel zu viele Kilometer. Nur, damit er am Morgen nach ihrer Abreise hier stehen kann. Auf dieser Düne, an diesem neuen Tag eines anderen Lebens. Ohne Überstunden und Zahnarzt. Nur, um sich vom Wind die Welt ins Gesicht blasen zu lassen, die Surfbretter mit seinen Söhnen zu wachsen und sich in einen staubtrockenen Neoprenanzug zu zwängen, der lange warten musste. Zu Lange. Endlich. Freiheit. Und der Alltag liegt eine ganze Nacht lang entfernt.

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Er liebt seine Söhne, wie jeder Vater seine Söhne liebt und seine Söhne lieben ihn, weil er ihnen diesen Moment gezeigt hat, den sie seit Jahrzehnten brüderlich miteinander teilen. Ein Moment, wie ein gut gehütetes Geheimnis, das sie verbindet. Der größere von beiden ist gerade 25 geworden und der kleinere wird bald 18. Wie die Zeit vergeht, denkt er sich und er denkt an damals, an noch-im-T2-Bulli mit der ganzen Familie, seinen Söhnen und seiner -ach vergessen wir’s. Er kommt hier einfach schon lange her und ist froh, dass er die Tradition mit seinen Söhnen durch alle Gewitter des Lebens, seine Gesetze und Gezeiten, hinweg fortführen konnte. In diesem alten Bulli hatten sie die besten Momente. Durch den Bulli hat es sein ältester Sohn im Surfen sogar fast bis nach oben geschafft. Der T2 war ein fahrendes Trainingslager, von dem aus er sich im Herbst und über Ostern auf die Weltmeisterschaften vorbereiten konnte. Immer hier, immer hinter dieser Düne oder den versteckten Sandbänken im Norden, die von dichtem Wald und langen unbefestigten Straßen bewacht werden.

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Nach Tagen im Salzwasser saßen sie dann abends immer auf Gartenstühlen zwischen den Pinien ums Lagerfeuer, Bohnen und Spaghetti im Topf auf den Kohlen. Und die Wellen bestimmten ihre Tage und füllten ihre Gespräche. Es war eine gute Zeit, die über die Jahre in Erinnerungen noch besser geworden ist. Anders, neuer und älter, irgendwie elektrischer. Zumindest was die Autos angeht, mit denen er seit über dreißig Jahren diese Strecke zurücklegt.

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Köln - Bordeaux. Er kennt jeden Kreisverkehr persönlich, jeden Meter Leitplanke. Er kennt den besten Kaffee, das beste Chocolatine, den billigsten Sprit und die miesesten Blitzer in Belgien. Er kennt Menschen an Mautstationen mit Vornamen. Ehrlich, man grüßt sich, französisch. Er kann Geschichten erzählen von Staus, länger als die Unendlichkeit selbst und erinnert sich beim Passieren einer Grenze noch daran, wie es früher war, als es sich noch wie Passieren anfühlte. Man kann sagen, dass er die Strecke im Schlaf fahren könnte, aber ohne Müdigkeitserkennung, Aufmerksamkeitsassistenten, Frühwarnsysteme und all den lebensrettenden Schnickschnack. Türen und Kofferräume schließen heutzutage automatisch, sanft, wie zwei sich küssende Kissen. Die Bremsen bremsen bevor man überhaupt gedacht hat, zu bremsen und seine neue Karre schwebt auf gebügelten Gleisen, anstatt über den Asphalt zu beben, so wie es sein guter alter T2, auf seine charmante Eigenart und seine unverkennbare Weise, getan hatte. Immer mit diesem um Benzin ringenden Brummen in sich, als würde er mitreden, immer auch Teil der Unterhaltung sein wollen und ab 130 richtig wütend werden. Jetzt ist da nur noch ein stromlinienförmiges Zischen, kaum hörbar, ein mit 130 Kilometer pro Stunde vorbeirauschender Sternenhimmel, weil Glas statt Dach und so viel Platz, dass er noch drei weitere Söhne mit Surfbrettern und Skateboards hätte in die Welt und auf seine Rückbank setzen können. Damals war das anderes, denkt er, nur sagen will er es nicht, weil er niemand sein will, der von damals redet. Zu schön ist diese Gegenwart, zu spannend die Zukunft, die sich vor ihm aufbaut. Wer wird er sein, wenn er das nächste Mal hinter dieser Düne steht? Immer noch Vater. Ehemann, Opa? Ein anderer Mensch am gleichen Ort, die Düne immer noch die gleiche.

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Es war wie immer eine lange Fahrt und es wird auch immer eine lange Fahrt bleiben. Aber so zerschlagen, wie früher, als er noch alleine fahren musste, weil seine Kinder schliefen, kommt er nach zehn Stunden schon lange nicht mehr an. Jetzt ist er fast zu erholt, um nicht ganz wach zu sein, die Müdigkeit zu spüren, die immer da war und alles unwirklich werden lässt und in diesen zauberhaften Schleier hüllt, wenn der Nebel im Morgengrauen ausbleibt. Zehn Stunden verteilt auf drei Führerscheine und umklappbare Sitzbänke, machen die Welt zwischen Köln und Bordeaux zu einem tausend Kilometer langen Urlaub, der schon beim Einsteigen begonnen hat. Südfrankreich, halb zehn, die erste Welle und der vom Büro geplagte Rücken hält! Ein Hoch auf Komfort, denkt er, nur sagen will er es nicht, weil er niemand sein will, der von Komfort redet. Komfort klingt ihm zu bequem, zu erfahren. Zu erwachsen für die abenteuerliche Inbrunst seiner tollkühnen Söhne. Sieht er sie wachsen, fühlt er sich reif, reif, wie eine fallende Pflaume. Nach der Reife kommt der Tod, fürchtet er. Schon alle Erfahrung gemacht? Er kann sie spüren. Unsichtbar und da. Vielleicht ist Reife aber auch nur eine Phase und er darf trotz der Reife weiterhin ein guter Vater bleiben, aber ein reifer am Boden liegender. Einer, der nicht komfortabel werden will, nur weil er alt wird, und kein Spießer sein will, nur weil er sich 20 Jahre das Kreuz im T2 Bus verrenkt hat und nun Sitzheizungen und Assistenzsysteme mag und aus endlosen Staus und den Reifenpannen eines ganzen Lebens gelernt hat?

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Gerüstet ist, für alles, was er eben nicht geplant hat und Navigation und Ersatzräder für die Ersatzräder zu schätzen weiß, die ihn durch dichte Wälder, ohne Wanderwege, bis hin zu einsamen Sandbänken führen, auf denen das Abenteuer anrollt, für das er mit seinen Söhnen immer wieder zurück an diese Küste kehrt? Nein, sagt er sich und denkt es nicht nur. Seine Söhne sagen dann, Papa früher ist unser Auto viel öfter im Sand stecken geblieben. Papa ist dann stolz. Papa ist und kann Vorbild bleiben, so wie er die Familienkutsche mit dem Herzen eines Geländewagens wieder aus dem Sand befreit hat und über lange einspurige, unbefestigte Straßen jagte. Rechts mal ein Haus, links wächst der Wein. Steinpilze statt Leitplanken und Piniengeruch, der zu zusammen mit dem Duft von Surfwachs und dem Gestank nassen Neoprens zu einem richtigen Parfum wurde. Auch der Geruch erinnert ihn an früher, als ihm sein Vater diese Wege durch die Pinien zeigte. Er schaute zu ihm auf, weil er groß war und knoten beim Segeln konnte und ihm das erste eigene Surfbrett aus einem Stück Schaumstoff baute. Die Jungs wollen nicht segeln und selbstgebaute Surfbretter brauchen sie auch nicht.

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Die Tage rauschen vorbei, wie die Brandung mit ihren Erinnerungen und der Moment, von dem er sich ein Stück mitnehmen wird, füllt sich mit Augenblicken und hohen Wellen, die der Herbst und seine Stürme an die französische Atlantikküste schicken. Es sind Tage, wie damals, nur heute, und der Vater und seine Söhne zwängen sich im Morgengrauen in nasses, kaltes Neopren, das nicht mehr staubtrocken ist und sich vollsaugt mit Salzwasser und den Momenten, die sie ein Leben lang teilen werden. Irgendwann werden sie aufbrechen müssen, nach Hause. Damit dieser Ort dieses Besondere bleibt. Der Geruch von Dünen für immer das bleibt, was er ist, Urlaub. Klopapier kaufen, Zahnarzt besuchen, Überstunden machen, eine Nacht lang entfernt.

Auf ihrem Heimweg werden sie den besten Raststättenkaffee trinken und er wird seinen Söhnen das beste Chocolatine in Gegenrichtung kaufen. Sie werden den billigsten Sprit tanken und sich von Menschen an Mautstationen auf Französisch verabschieden. Sie werden ankommen und eine Weile bleiben, bis der Moment in ihnen aufgebraucht ist und sie wieder aufbrechen müssen zu diesen Küsten, ihr Leben lang. Als Söhne, Männer, Väter. Sie werden immer diese Sehnsucht spüren, am Abend vor ihrer Ankunft, wenn sie das Auto mit all ihren Erwartungen beladen und sich auf die Düne freuen, die ihnen der Vater damals zeigte und die Müdigkeit, die nicht mehr ganz so müde ist.

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Credits

Bild & Text: Konstantin Arnold