2000 erschien die erste Ausgabe des BLUE Magazines, mit einem Interview des frischgebackenen Europameisters der Junioren, Marlon Lipke. Ich war damals 11 Jahre alt, doch an den Artikel erinnere ich mich bis heute. Nicht, dass ich mir jemals etwas aus Nationalitäten gemacht hätte, doch dass dieser deutsche Junge auf der internationalen Bühne so durchstartete, gab meinem Selbstverständnis als Surfer ordentlich Schwung mit. Marlons Leistungen reichten aus, um meine Wahrnehmung vom Machbaren neu auszuloten - Und dabei ging es mir nie darum, ihn irgendwann in einem Heat zu besiegen. Das Interview war eher eine Art Dosenöffner für die Surfkultur im Allgemeinen und meinen Anspruch daran teilzuhaben.

Zwanzig Runden um die Sonne später arbeite ich als Redakteur für die Blue und Marlon ist nach wie vor nicht klein zu kriegen. Es ist kaum zu glauben, welche Epoche er aktiv miterlebt hat - schillernde Lichtgestalten die vor unseren Augen verglühten, Meilensteine in der Geschichte der Contest-Elite und alle bizarren Wendungen der Surfindustrie. Als mir Christian Bach steckte, dass er mit Marlon an einem Videoprojekt arbeitet und für mich dabei ein längeres Gespräch mit ihm rausspringen würde, musste ich mich am Riemen reißen, kein Back to the Future Interview daraus zu machen. Denn Marlon Lipke ist ohnehin niemand, für den früher alles besser war. Es folgt ein Zusammenschnitt eines gut zweistündigen Telefonats, das trotz des gemeinsamen Rückblicks auf die abgefahrenen Zeiten vorwärtsgewandt ausgefallen ist.

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Marlon Lipke - Moin! Lange nicht gesehen und gesprochen. Das letzte Mal glaube ich in Scheveningen, als du zusammen mit Yannick de Jager für deine Video Series diesen unfassbaren Swell erwischt hast.

Hi Jan, jaaa - ich erinnere mich. Wie gut waren die Wellen?! Und wie gut war Yannick damals?! Meiner Meinung nach immer noch der beste Nordsee-Surfer aller Zeiten. Holland ist großartig; die Kultur, die Menschen, die Stimmung - und mit etwas Glück eben auch die Wellen. Ob du es glaubst oder nicht, genau solche Trips sind mir am liebsten. Wo es um mehr geht, als ums pure Wellenreiten. Neue Orte, Leute, Bräuche kennenlernen - und der Surf ist dann das Sahnehäubchen.

Stichwort Griechenland?

Ha, genau! Das war so ein Trip. Mit gemäßigten Erwartungen und sehr spontan hin, das Drumherum genossen und schließlich völlig ungeahnt gescored. Gony (Zubizarreta) und ich haben sogar eine Welle gefunden, die vor uns scheinbar noch niemand gesurft ist. Top-to-bottom Barrels, wie man sie im Mittelmeer nicht erwartet - und schon gar nicht in Griechenland.

Du scheinst dich wie von selbst ständig abseits der ausgetretenen Pfade zu befinden. Das gilt für solche Trips, aber eben auch für deine Karriere. Als du dich damals voll reingekniet hast, war das ja nicht unbedingt der solide Deutsche Weg.

Das stimmt schon, aber wie von selbst lief es nicht unbedingt (lacht). Ich musste bewusst aus der Reihe tanzen und hart für meinen Traum arbeiten.

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Inwiefern?

Ein Jahr auf der Qualifying Series, also ein echter Versuch sich für die World Tour zu qualifizieren, kostete circa 40.000€, wenn man halbwegs bescheiden reiste. Ich hatte damals bestenfalls die Hälfte an Sponsorengeldern. Den Rest habe ich aus eigener Tasche bezahlt. Da kannst du dir ungefähr vorstellen, wie es sich anfühlt um die halbe Welt zu fliegen, um dann in mäßigen Wellen früh auszuscheiden. Der finanzielle Druck hat mich ziemlich ausgelaugt. Andererseits hatte ich natürlich super Unterstützung; von meiner Familie, von den anderen Euros auf der Tour und für wichtige 10 Jahre auch von Quiksilver.

Gutes Stichwort. Ich habe über zwei Ecken von einer ziemlich verrückten Geschichte über dich und Quik gehört.

Oh man, also um das vorweg direkt klarzustellen: Ich bin Quiksilver für die Zeit sehr dankbar und es war wirklich enorm, was sie für uns geleistet haben. Sie waren die ersten, die vernünftige Trainingscamps organisiert haben und für uns Teamrider wirklich Berge versetzt haben. Die Zeit mit ihnen hat mich wirklich weitergebracht…

Aber...?

Kein “aber” (lacht). Rückblickend ist diese Zeit nur etwas abrupt zu Ende gegangen. Im Jahr vor meiner World Tour Qualifikation haben sie mir recht früh gesagt, dass mein Vertrag nicht verlängert werden würde - fair enough. Doch als der Quik Pro in Hossegor startete, war mein Vertrag noch gültig und es hatte eigentlich Tradition, dass die Teamrider bei den Trials mitmachen durften, um eine Chance auf das Main Event zu bekommen. Doch ich war plötzlich außen vor. Ich musste im Ernst auf meinen Vertrag pochen und auf meinem Platz im Starterfeld bestehen. Als sie dann schließlich widerwillig nachgaben, gingen die Spielchen weiter. Die Trials wurden nach Biarritz verlegt und mir sagte niemand Bescheid, bis kurz vor knapp. Wir sind dann im Auto eines Freundes von Hossegor nach Biarritz runtergeballert, ich habe mich noch im Auto in den Wetsuit gezwängt, bin dann mit zehn Minuten Verspätung im Wasser gewesen und konnte meinen Heat irgendwie noch gewinnen. Jedenfalls hab ich es bis ins Main Event geschafft und anschließend nie wieder was vom Team Manager gehört.

Du scheinst da aber nicht nachtragend zu sein…

Nein, nein. Im Nachhinein finde ich die Story witzig und muss auch sagen, dass mir diese Situation und die fehlende Unterstützung dann nochmal zusätzlich Feuer unterm Hintern gemacht hat. Ich meine, im Jahr darauf habe ich mich für die Tour qualifiziert, also war es eine wichtige Erfahrung für mich.

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Und wie hast du den Sprung auf die Tour dann erlebt? Hat sich danach schlagartig alles für dich geändert?

“Endlich angekommen”, sollte man meinen und in gewisser weise fühlte es sich genau so an. Der Moment an dem ich realisierte, dass ich es gepackt habe, war unbeschreiblich - genau wie das Jahr auf der Tour. Ich habe es in vollen Zügen genossen und kann nicht behaupten, dass ich etwas bereue. Doch wenn die Livestreams der Contests vorbei sind, geht es für uns ja weiter und hinter den Kulissen wurde ich auch hier wieder schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Beim Hurley Pro Trestles kam ein Marketing Vertreter von Hurley auf mich zu und fragte mich, ob ich nicht für sie arbeiten möchte.

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Was?

Wie gesagt, es waren andere Zeiten damals auf der ASP Tour (lacht). Aber ich würde es um nichts in der Welt tauschen. Verdammt, ich war mit Andy und Kelly zusammen auf der Tour.

Dazu allein hätte ich noch 10 Fragen, aber ich würde gerne die Kurve kriegen zu deinem neuen Engagement. Wie bist du zu deiner Position im Deutschen Nationalteam gekommen?

Schöner Übergang. Ich bin als Juniorentrainer zu den ISA World's mit nach Huntington gereist, um unsere Talente zu coachen. Die Atmosphäre im Team und die ganze Infrastruktur vom DWV hat mich sehr beeindruckt. Es wird wirklich alles dafür getan, dass man sich auf’s Surfen konzentrieren und an sich arbeiten kann. Diese Art von Unterstützung ist sehr motivierend, vor allem wenn ich es mit meinem Einzelkampf von früher vergleiche. Es war sogar so motivierend, dass ich nochmal bei den Deutschen Meisterschaften mitgemacht habe und gewinnen konnte. So bin ich da quasi reingerutscht.

Die Rolle als Mentor finde ich interessant. Was möchtest du der nächsten Generation mitgeben?

Wir haben so ein starkes Team. Rachel (Presti) und Noah (Klapp) haben unglaubliches Potential. Leon (Glatzer) ist sowieso ein Freak, aber jetzt, da ich die Chance habe, muss ich noch mal Lenni (Jensen) hervorheben. Der Junge hat so viel Talent und so eine solide Basis, der schüttelt es so aus dem Handgelenk. Insgesamt ging es mir schon immer darum, den Sport nach vorne zu bringen, und das kann ich in dieser Mentoren Rolle momentan am besten, schätze ich. Mit all den Jahren auf dem Buckel, kann ich meine Erfahrung gut weitergeben und das ganze Team gut pushen. Denn sie wissen, “Marlon war schon da, der kennt die Situationen und weiß wie man damit umgehen muss.”

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Ich stelle es mir schwierig vor, mit solchen hoch veranlagten Kids noch mal die Grundlagen durchzugehen...

Na klar ist das hart, wenn man noch mal einige Schritte zurück gehen muss, um an der Basis zu arbeiten. Aber die Crew ist hochmotiviert. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel intensiv mit Leon an seiner Backhand und an seinem Railgame gearbeitet. Das muss einfach sein, um ihn auf das nächste Level zu bringen. Und er hat sich wirklich reingehängt und durchgebissen. Jetzt ist seine Backhand eine echte Waffe.

Darüber hinaus geht es mir aber vor allem um das Zwischenmenschliche und den Zusammenhalt im Team…

So wie die Euro Crew auf der Tour damals?

Darauf wollte ich gerade hinaus. Die Zeit mit Gony, Aritz, Hodei und Co. auf der Tour hat mich wirklich geprägt. Wir sind zusammen um die Welt gereist und haben uns trotzdem immer verstanden, uns gegenseitig gepusht und sind immer füreinander eingesprungen. Es gab nie schlechte Vibes und ich hoffe, dass ich der nächsten Generation etwas von diesem Teamgeist einimpfen kann. Man kann in allem möglichen der beste sein, doch wenn das Herz nicht am rechten Fleck sitzt, ist das alles nichts wert.

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Das ist mal eine Aussage. Denkst du da an etwas bestimmtes?

Es ist eher ein Gefühl, dass sich manchmal bei mir einschleicht. Manchmal mache ich mir Sorgen, dass das Echte, das Greifbare in unserem Leben auf der Strecke bleibt. Manche Freundschaften hängen jetzt von Follower-Zahlen ab: “Mit dem lohnt sich ein Surftrip, der hat 100K Follower mehr als ich.” Und das ist weniger überzogen, als es vielleicht klingt. Ich vermisse die Zeiten vor Instagram - echte Menschen kennenlernen, ohne Hintergedanken.
Dennoch hat auch das natürlich wieder seine guten Seiten. Ich habe vollsten Respekt vor allen, die sich diese Plattformen zu Nutze machen und damit ein Leben aufbauen…

Aber?

… Aber dem ganzen fehlt etwas die Balance, meine ich. Über deinen Screen flackert irgendwann, neben tausenden anderen Bildern, das Foto einer Welle. Für dieses Bild ist ein Fotograf womöglich um die halbe Welt gesegelt, um dann in Island den richtigen Moment vor dem gigantischen Hintergrund zu erwischen. Hinter jedem Bild steckt so viel Geschichte, die digital einfach verloren geht. Es fehlt die Zeit das Foto genau zu studieren.

Ich erinnere mich an ein Buch, das wir ganz früher zu Hause hatten. “Waves” hieß es, glaube ich. Das habe ich Tag und Nacht vorwärts und rückwärts durchgeblättert. Ich habe jedes Foto genau studiert und dabei geträumt, wie es wohl wäre diese eine Welle zu surfen.

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Sehe ich ähnlich. Deswegen haben wir ja auch alles getan, um das Yearbook dieses Jahr wieder zu drucken.

Und das ist genau der Punkt. Zeiten ändern sich, jetzt gerade ganz besonders, doch man muss positiv an die Sache herangehen - und eben bewahren, was nicht verloren gehen darf: Teamgeist und Zusammenhalt, solide Technik und gutes Railgame und natürlich gedruckte Surfmagazine und -Bücher.

Amen. Danke für das Gespräch Marlon.

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Marlon wird unterstützt von: Garmin, Silberpfeil, Jam, Semente, La Point, RVCA, Us The Movement, SRFACE, Deutsche Sporthilfe & DWV

Image Credits:
Foto: Pedro Mestre
Film: Nuno Bandeira, Whiteflag Productions
Water: Joao Cabrita Silva