The Ranch Yearbook 2019

Dieser Artikel erschien im Blue Yearbook 2019. Gedruckt liest es sich immer noch am besten.
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Text: (sicherheitshalber) Anonym 


Kalifornien. El Niño Winter 2016. – Das Schlauchboot schwappt übermütig an seiner Ankerleine, die im steilen Winkel im tiefblauen Pazifik verschwindet. Die Wellen sind groß, viel größer als ich erwartet hatte. 18 Sekunden hat der Swell, und selbst hier, im sicheren Channel, schnalzt das Boot jedes Mal laut surrend an seiner Leine auf wenn eine Setwelle unter dem Rumpf durchläuft. Mein Blick zieht vorbei an den weißen Felsen entlang bis vor zum oberen Point, dem Indicator, wo die Sets sich ans Riff herantasten bevor sie zu riesigen Wasserbergen aufsteigen um sich dann, einem Wasserdrachen gleich, speiend in zehn Fuß Barrels zu entladen. Dort wo die letzte Setwelle gerade aufs Riff gehämmert ist, fliegen noch Schaumfetzen durch die Luft und tanzen im frischen Offshore. Meine beiden Partner Erik und Eli tauschen kurze Blicke aus und versuchen die angespannte Stimmung mit kleinen Scherzen aufzulockern. Es ist frühmorgens, der Himmel strahlt blau und die Sonne scheint mir angenehm warm auf den Rücken während ich meine 8‘8“er Single Fin Gun aus dem Boardbag hole. Langsam und bedächtig wachse ich mein Brett, und mir wird bewusst, dass meine ursprüngliche Vorfreude einer vertrauten Mischung aus Furcht und Adrenalin gewichen ist. Aber viel Zeit zum Nachdenken bleibt mir nicht, denn oben am Point bahnt sich bereits ein neues Set an.

Wie aus dem Nichts erscheint dort plötzlich ein einzelner, von Kopf bis Fuß in Neopren gehüllter Surfer auf einem winzigen Brett, das eher einem Skimboard als einem normalen Shortboard ähnelt. Er paddelt mit sicheren Zügen über die erste, dreifachüberkopfhohe Welle, und taucht durch die zweite hindurch, doch bereits die dritte Welle hat ihn eingeholt und droht genau auf seinem Kopf zu brechen. Doch anstatt abzutauchen paddelt der Kerl jetzt mit voller Kraft das Face hoch, und im letzten Moment schwingt er Körper und Brett um 180 Grad herum und fällt in die Steilgrade. Alle im Boot halten den Atem an. Die winzigen Finnen auf seinem absurd kleinen Board scheinen nicht zu greifen, doch dann fräst sich seine Rail ins Face und der Typ zieht in einen wunderschönen, weit ausholenden Bottom Turn um dann mit voller Wucht den vertikalsten Teil der nächsten Lip wegzuballern. Wir schauen sprachlos zu wie der Unbekannte gnadenlos eine Section nach der anderen demontiert, den Arm ins Face hängt und in einer kurzen Barrel verschwindet. Dann versperrt uns der kopfhohe Wellenrücken die Sicht. Doch wir alle spüren, dass der Typ noch in der Welle ist, und die enormen Gischtbalken, die alle zwanzig Meter aus dem Wellendach gerissen werden, und die der Wind zu uns herüber trägt, bestätigen unsere Vorahnung. „Unglaublich“, murmele ich ungläubig, „von oben am Indicator bis ganz runter bis zur Eisenbahnbrücke. Das sind über 700 Meter!“ Erik schaut mich vielsagend an: „Es gibt nur einen der das hier schafft, Bro. Curren.“

The Bixby Ranch California
Wo das Wasser noch glasklar ist, der Strand menschenleer und die Wellen unvergleichbar.

Die Geschichte die ich dir erzählen möchte ist ein Tabubruch und ein verdammt riskanter Verstoß gegen den Ehrenkodex aller Eingeweihten. Diejenigen die dort gewesen sind verlieren kein Wort darüber, und schon gar nicht wenn sie auch nur einen Funken Hoffnung hegen jemals an diesen magischen Ort zurückzukehren. Und eins kannst du mir glauben: Alle wollen sie zurück. Dorthin wo das Wasser noch glasklar ist, der Strand menschenleer und die Wellen mit unglaublicher Kraft und Präzision aufs Riff schlagen. Vielleicht besteht meine einzige Rettung in der Tatsache, dass dieses Magazin alljährlich nur auf Deutsch erscheint. Denn seit über fünfzig Jahren hat es kein englischsprachiges Surf-Blatt gewagt von dieser sagenumwobene Gegend zu berichten. Fotos findest du im Netz so gut wie keine. In Zeiten von Google Earth, globaler Überwachung und 5G Vernetzung ist so eine Funkstille fast schon unheimlich.
Es blieb mucksmäuschenstill – bis jetzt.

Die Ranch. Gemeint ist nicht Kellys sündhaft teure, stromfressende Wellenwalze die verheißend aber monoton durch seinen Grauwasserpark in Lemoore pflügt, sondern ein Stück unberührte kalifornische Küste, das seit Jahrhunderten von Menschenhand nahezu verschont geblieben ist. Dort oben, in den grünen Canyons findest du zwischen alten Eichen bisweilen noch eine Pfeilspitze der Chumash Indianer die hier einst eine ihrer größten Siedlungen hatten. Der Ort den sie heute die Hollister Ranch bezeichnen wurde 1769 erstmals von der spanischen Portolá Expedition entdeckt, die zu Fuß die gesamte Küste von der Baja California bis hoch nach San Francisco marschierten. Die achtundfünfzig Quadratkilometer große Ranch wurde als Teil der spanischen Landzuteilungen 1794 an die Ortega Familie verkauft, bis sie schließlich 1869 an den reichen Cowboy William Welles Hollister ging. Hollister war ein smarter Geschäftsmann der Rinder und Schafe großzog um sie an die hungrigen Goldsucher zu verkaufen, die in den nördlichen Bergen auf immer weniger ertragreiche Goldadern stießen.

Aber der wahre Schatz dieser Gegend liegt nicht in der Erde vergraben, sondern bricht seit Urzeiten an seiner Küste. Erst in den späten fünfziger Jahren machten sich ein paar prominente Mitglieder des Santa Barbara Surf Club - allen voran der berühmte Shaper Rennie Yater und der geniale Erfinder George Greenough - auf, die Surf-Qualität dieser Gegend zu erkunden. Was sie dort fanden verschlug ihnen die Sprache: eine Vielzahl an Right Points, kleinen Buchten und Riffwellen die das ganze Jahr über liefen. Der Santa Barbara Surf Club und seine surfhungrigen Mitglieder reagierte geistesgegenwärtig: als die immer rascher wachsenden Surf-Horden drohten die Ranch in eine feiernde Müllhalde zu verwandeln, machten sie 1962 dem Besitzer, Clinton Hollister, ein Angebot dem er nicht widerstehen konnte. Im Gegenzug zum unbegrenzten Zugang würden die Club Mitglieder die Ranch patrouillieren, unbefugte Surfer aufspüren und sofort ausweisen.Dieser elitäre Spirit der Exklusivität und Abgrenzung, in der sich eine der vielen Schattenseiten des amerikanischen Traumes offenbart, hallt bis heute noch auf dieser dreizehn Kilometer langen Küste nach. Denn die Ranch ist weiterhin schwer bewachtes Sperrgebiet das von einer Gruppe zäher, reicher, älterer Surfer und ihren Söhnen um jeden Preis verteidigt wird. Rein kommst du auf dem Landweg nur mit persönlicher Einladung. Da die schwieriger zu bekommen ist als ein Date mit Kendell Jenner, bleibt also nur noch der Weg übers Wasser: per Boot.

The Ranch Santa Barbara Surfing Boat
Die Ranch ist seit jeher schwer bewachtes Sperrgebiet das von einer Gruppe zäher, reicher, älterer Surfer und ihren Söhnen um jeden Preis verteidigt wird.

Dass die Küste nicht aussieht wie jede andere vollgepflasterte Betonmeile in Südkalifornien ist vor allem der hiesigen Coastal Alliance zu verdanken, die seit Jahrzehnten für den natürlichen Erhalt dieser Gegend kämpft. Ironischerweise ist es jedoch genau diese Alliance, die als einer der Hauptkläger im Prozess gegen die Besitzern der Hollister Ranch auftritt. Es bläst frischer Wind in den Büros der mächtigen Coastal Commission, der kalifornische Strandbehörde, die sich seit Bestehen der Ranch vorgenommen hat, das Gelände für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Coastal Commission hat kürzlich vor Gericht eingeklagt, dass zumindest ein Teil der südlichen Ranch geöffnet werden soll. Zudem hat sich jüngst auch der kalifornische Staat auf Druck vieler Bürger als Mitkläger in den laufenden Prozess eingeschaltet. Jetzt, wo die federführende Richterin ihren Zuspruch angedeutet hat, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sagenumwobene Points wie Razors und Drakes zum nächsten Rincon verkommen. Das mag zwar noch eine Weile dauern, aber eins steht fest: Das Tor zu den grünen, menschenleeren Hügeln und besten Point Breaks Kaliforniens wird aufgesprengt. Und damit steht eins fest: Die Ranch wird sich verändern.

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Doch solange es die Ranch in ihrer gänzlich unberührten Form gibt, möchte ich dir von meinen Begegnungen mit diesem magischen Ort erzählen. Ich bin im Jahr 1999 vom Münchener Eisbach nach Kalifornien gezogen. Die ersten Jahre habe ich mich in San Diego durchgeschlagen, doch 2004 zog es mich zum Studieren nach Santa Barbara. Es war während meiner Studienzeit, als die Liebe zu der Gegend nördlich der Uni begann. Diesem Küstensreifen den sie die Gaviota Coast nennen und der mit jeder nördlicheren Meile ruhiger und schöner wird. Zur linken Hand liegt das strahlend blaue Meer und zur Rechten stemmen sich die grünen Hügel in den Himmel. Hier weiden die Kühe noch frei, und in der richtigen Jahreszeit triffst du hier noch auf die orange-schwarzen Monarchen Schmetterlinge, die zu tausenden in den Eukalyptus- und Pinienbäumen überwintern.

Doch noch ist sie zu, die Ranch. Um sie zu surfen brauchst du daher ein vernünftiges Schlauchboot mit starkem Außenbordmotor, eine gute Crew und die notwendige Erfahrung um dein Boot bei großen Swells vom Strand aus durch den Shorebreak zu jagen. Denn die legendären Pointbreaks der südlicheren Hollister Ranch laufen nur im Winter wenn die allergrößten Nordwest-Swells durch den Santa Barbara Channel marschieren. Die Bojen müssen über 15 Fuß anzeigen bevor ich mich mit meinen Jungs aufmache und wir unser Boot ins Wasser lassen. Auch der Wind muss stimmen, und der Swell darf nicht zu nördlich sein, sonst springt bei all dem Aufwand nur eine holprige Bootsfahrt raus.

The Ranch Bluemag
Dass die Küste nicht aussieht wie jede andere vollgepflasterte Betonmeile in Südkalifornien ist vor allem der hiesigen Coastal Alliance zu verdanken.

Der Wasserstart am Gaviota Beach, das sogenannte Beach Launching, hat es in sich. Zwei Jungs halten das Boot mit dem Bug in Richtung Meer gerichtet, während der dritte den Motor startet. Dann heißt es: geduldig sein und die Sets abwarten, denn bei großem Swells brechen am Strand von Gaviota sechs Fuß Beach Break Closeouts mit aller Härte auf den Sand. In den ersten Jahren haben wir alle Rookie-Fehler begangen, die man hier nur machen kann. Waren zu ungeduldig und haben die Sets nicht richtig abgewartet. Sind dann mit Vollgas direkt rausgebrettert, bis eine Setwelle wie aus dem Nichts vor uns auftauchte, wir verzweifelt das Face hochjagten, aber zu spät dran waren und uns dann rückwärts überschlugen. Das ganze Equipment, die Bretter, der Anker, die neuen Ray Bans - alles im Wasser. Das ist uns schlappe zwei Mal passiert, einmal beim Rausfahren, und das zweite Mal beim Reinkommen, denn um dein Boot sicher an den Strand zurück zu befördern musst du Geduld aufbringen. Der Trick ist immer nur hinter der Welle zu fahren und nicht vor ihr, sonst schnappt sich die Welle dein Boot und „Schwupps“ liegt es wieder überschlagen im Wasser.

Den Ranch Locals passen solche Rookie Fehler gut in den Kram. Überhaupt sind diese Jungs eine eingeschworene Truppe der ungenießbarsten, unfreundlichsten Schnauzbärte die dir in Kalifornien je über den Weg laufen werden. Über Jahrzehnte waren sie dafür berüchtigt die Bootswinde am Pier von Gaviota regelmäßig zu sabotieren, sodass keiner sein Boot ins Wasser lassen konnte. Als dann vor ein paar Jahren ein riesiger Sturm das Ende des Piers mitsamt der Bootswinde wegriss, drohten sie den wasserstartenden Schlauchboot-Crews die Ankerleinen zu kappen. Doch meine Jungs und ich nehmen solche Drohungen und Gemeinheiten gern in Kauf, denn wenn die Ranch läuft gibt es für uns keinen heiligeren Ort.

Wenn alles zusammenkommt, und du dein Boot erfolgreich durch den Beachbreak gepeitscht hast, dann kannst du endlich den Hahn aufdrehen. Weiter draußen spürst du an den großen Tagen wie die Sets unter dir hinweggleiten während langsam die Eisenbahnbrücke von Razorblades in Sicht kommt. Der Spot ist der erste Break auf der Ranch und das Ziel aller die bei den größten Swells rausfahren. Es ist jedes Mal diese Mischung aus Vorfreude und Adrenalin die deinen Puls schneller schlagen lässt wenn du vom Wasser aus die ersten brechenden Sets erkennst. In dir steigt eine prickelnde Anspannung auf, während dein Motor durch das glasklare, tiefblaue Wasser pflügt, vorbei an Seeottern die genüsslich, auf dem Rücken liegend in der Sonne baden und dir in deinem Boot erstaunt nachblicken. Um diesen Spot aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken müssen große Mächte am Werk sein. Doch wenn er erwacht, ist Razorblades absolute Weltklasse. Ein endloser langer Point der seinen Spitznamen dem messerscharfen Riff verdankt, das bei Low Tide auf der Inside auftaucht.

The Ranch Robin York
Unser Autor auf dem Weg zum Spot. Mit Auge auf die Wellen, die anderen Boote - und die Locals.

Seit über zehn Jahren versuchen meine Jungs und ich bei allen großen Swells die hier im Winter auf der Ranch laufen dabei zu sein. Unsere Liebe zu dieser Gegend hat mich zum Forecast Junkie gemacht, denn es müssen so viele Faktoren zusammenspielen m diesen magischen Ort surfen zu können. Doch wenn sich dann im Januar die großen Swells in den Santa Barbara Channel einfädeln und wie mit dem Lineal gezogen um die riesige Landzunge von Point Conception bügeln, dann ist die Ranch absolute Weltklasse. Dann laufen hier Point Breaks die so groß und lang und bei Low Tide mit so unglaublichen Barrel Sections gesegnet sind, dass sie selbst Rincon, die weiter im Süden gelegene “Queen of the Coast,” zur überfüllten, überbewerteten Stiefschwester degradieren. Während ich diese Zeilen schreibe, muss ich an die vielen Tage, Eindrücke, und Erlebnisse denken die diese Gegend mir in den letzten zehn Jahren geschenkt hat:
Der Tag an dem wir nach einer langer Session einen Mittagsschlaf im Boot machten, und plötzlich ein riesiges Set im Channel brach, wir den Anker lichten und verzweifelt den Motor starten mussten um gerade noch über das Set hinwegzukommen.

Der Tag an dem wir den Anker zu schnell ins Boot hievten und ein klaffendes Leck in die Bordwand rissen. Die stundenlange, mit Leckwasser schwabbernde Fahrt zurück zum Strand in Gaviota.
Die drei Tage an denen meine Jungs und ich eine immer höhere Dosis von Magic Mushrooms aßen und immer tiefer in die menschenleere Wasserwelt der Ranch eintauchten.
Der große Tag an dem wir unsere Ankerleine kappen mussten, weil der Wind und der Swell drohte unser Boot zu kentern. Der Moment als ich das Ruder an meinen Kumpel Eli abgab und auf dem Rücken liegend in den azurblauen Himmels starrte, während unter mir das tiefe dunkelblau des Meeres vorbei huschte. Die trockene, von der Sonne gewärmte kalifornische Luft, in der abends ein Hauch von Salbei und wildem Lavendel mitschwingt. Die klaren, frühen Morgen an denen uns die Seeotter zu zwinkern während sie genüsslich die schwarzen Krabben auf den runden Steinen in ihren Bauchtaschen aufschlagen. Der rot glühende Sonnenuntergang nach einer langen Razors-Session an dem die Buckelwal Mama mitsamt Kind plötzlich neben uns auftauchte.

Das Gefühl das bleibt, ist Wehmut. Wehmut und Dankbarkeit für diesen schwimmenden Wallfahrtsort und Meeresgral dem in seiner jetzigen Form ein jähes Ende droht. Dieser Ort wird wohl oder übel der Égalité und dem Fortschritt weichen müssen, und es scheint unausweichlich, dass unsensible Massen von Strandbesuchern ihrem Müll hier hinterlassen und ihre Bierflaschen und In-Out Burger Bags in den Sand schmeißen. In Amerika nennen sie ironischer Weise „Progress.“ Doch immer locker, Bro. Unmut ist undankbar. Was für mich bleibt ist vor allem Stoke, Ehrfurcht und die tiefe Dankbarkeit als Fremder, als Deutscher, einen so wilden und unberührten Ort über so viele Jahre in seiner Ursprünglichkeit kennengelernt zu haben.
„The dream is real,“ hat mir einer der fiesen Schnauzbart-Locals mal während einer epischen Session im Wasser versichert. Doch bevor er sich umdrehte um eine große Setwelle anzupaddeln rief er mir noch zu: „Now go find your own, you kook!“

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