Text: Robin York

 

Ich saß in Lima im Stau und starrte auf den Hinterkopf von Santiago, dem vielleicht philosophischsten aller peruanischen Taxifahrer. Er hatte mich vor sieben Wochen am Flughafen von Lima abgeholt und in diese stinkende, ohrenbetäubende südamerikanische Millionenstadt gebracht. Damals war ich Lima, so schnell ich konnte, entflohen, auf der Suche nach guten Wellen, Dschungel-Abenteuern und nicht zuletzt nach neuen Perspektiven.

 

Und nun, nach sieben Wochen Peru saß ich wieder genau dort, wo mein Trip angefangen hatte: auf dem Rücksitz von Santiagos Kombi, denn mein acht Fuß langes Boardbag passte halt einfach nicht aufs Dach. Ich erzählte ihm, auf den zuhause seine Frau und sechs Kinder warteten, von Dingen, die ich in seinem Land erlebt hatte: von den hohen Bergen der Anden, in die ich geklettert war, vom Dschungel, der mich fast das Leben gekostet hatte, von perfekten Wellen, die ich geritten war, und nicht zuletzt von neuen Freundschaften, die ich geschlossen hatte.

 

Santiago hörte mit offenem Herzen zu, er freute sich mit mir, lachte und war begeistert. Doch am Ende meiner Geschichte vernahm ich, wie seine Stimme ernst wurde. Er legte die Hand auf das Boardbag neben ihm und fragte mich, wie lange das denn alles noch so weitergehen sollte. Etwas verdutzt blickte ich in den Rückspiegel, wo sich unsere Augen trafen. Seine schmunzelnden Augen blitzten auf: „Ja, Robinson, wie lange willst du das noch durchziehen, dieses Wanderleben? Was ist mit Familie, mit Kindern und wo sind deine Wurzeln, deine Community?“ Ich wich seinen bohrenden Blicken aus und griff auf die alte Leier zurück, auf die Story von der großen Freiheit, von der Weite des Meeres und all den anderen passenden Klischees, die mir in dem Moment einfielen. Doch Santiago ließ sich nicht beirren. Er klopfte auf das Boardbag: „Diese Bretter, die dir heute die Welt bedeuten, meinst du wirklich, dass sie in fünfzig Jahren noch für dich da sind? Jetzt bist du Anfang dreißig, aber wer kümmert sich dann mal um dich?“ Er schaute von der Fahrbahn auf, „Du hast in sieben Wochen mehr von Peru gesehen, als ich je erleben werde, doch was bedeuten all diese Geschichten, wenn du keine Enkel hast, denen du sie irgendwann erzählen kannst?“ Ich antwortete, dass es mit Familie und Kindern noch Zeit habe, da für mich das Reisen und Surfen an allererster Stelle stünden, doch seine Fragen gaben mir zu denken und sie begleiteten mich den ganzen weiten Flug zurück nach LA.

 

Ich denke, es sind Fragen, die sich jeder Surfer im Laufe seines Lebens einmal stellen muß. Denn jeder von uns, der diesem Lifestyle verfallen ist, weiß um die Hingabe, um nicht zu sagen die Opfer, die es benötigt, um immer wieder Wellen reiten zu können. Dabei spielt es keine Rolle, ob du fernab des Meeres wohnst oderdirekt am Meer. Sam George, Surfjournalist der ersten Stunde, drückt es so aus: „Das Surferleben ist nichts anderes als absolute Hingabe. Und absolute Hingabe kennt keine Bedingungen.“ Oder anders ausgedrückt: Wenn der Weg zur nächsten Welle tatsächlich das Ziel bedeutet, dann ist es bisweilen ein verdammt steiniger Weg. Egal, ob du dich jetzt mitten im Winter hinters Steuer setzt, fünf Stunden dem Nebel, Stau und der Kälte trotzt, um dann bei Minustemperaturen irgendwo in Dänemark rauszupaddeln oder ob du monatelang das Brett in der Ecke stehen hast, während du die nötige Kohle zusammensparst, um für ein paar gesegnete Wochen gute Wellen zu surfen, der Weg des Wellenreiters ist eindeutig mit Opfern verbunden. Als Einzelner und im Kollektiv teilen Wellenreiter diesen Weg.

 

Vor ein paar Jahren war ich mit der Blue-Crew an einem perfekten rechten Point in Mexiko. Ich wohnte damals bei einer Familie, die ein paar Zimmer vermietete, und unser Nachbar war ein alter, hagerer Surfer namens Mike, den die Locals alle Miguel nannten. Miguel war ein komischer Kauz, der nicht viel sprach, schon früh morgens sein Pacifico trank, bis elf in seiner Hängematte lag und dann zum Point schlenderte. Auch im Wasser sagte er nicht viel, saß weit draußen und fing die größten Setwellen ab. Er war bereits über fünfzig und ein verdammt guter Tube-Surfer. Sein entspannter Style und die Art, wie er seinen Bottom-turn setzte, erinnerte mich an die Bilder von Gerry Lopez, wie er in den siebziger Jahren Pipeline dominierte. Über Pipe hatte Gerry damals gesagt: „The faster I go out there, the slower things seem to happen.“ Doch so relaxed und zufrieden Miguel in den Tubes stand, so sehr schien er an Land mit den Geistern seiner Vergangenheit zu ringen. Ich beobachtete ihn, wie er ganze Tage in seiner Hängematte verbrachte und dabei apathisch an die Wand seines Zimmers starrte. Bisweilen holte er sich im Kühlschrank ein frisches Bier und würdigte uns dabei keines Blickes. Eine Woche lang ging das so und manchmal sah ich ihn am Spot, doch die meiste Zeit lag er in seiner Hängematte, spielte Gitarre und trank sein Bier.

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Eines Abends begegnete ich ihm auf dem Weg zum Kühlschrank und lud ihn auf ein Pacifico ein. Wir setzten uns an einen Plastiktisch und sagten lange nichts. Ich fragte ihn nach seiner Geschichte und er antworte: „Don’t ask me any questions and I won’t tell you no lies.“ Damit schien unser Gespräch vorzeitig beendet, doch nach einer Weile fing er an zu erzählen. Ich erfuhr, dass er der Vater von Mike Todd war, einem bekannten kalifornischen Big-Wave-Charger, und dass er lange in Puerto Escondido gelebt hatte. Am Ende unseres Gesprächs stellte ich ihm dann die Frage, die mir die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte: „Ist es das wert, diese Leidenschaft, für die wir alle leben und für die wir bereit sind, so viel zu geben?“ Er schaute mir das erste Mal direkt in die Augen und sagte dann: „Ich bin dreiundfünfzig Jahre alt und ich surfe diesen Spot schon seit 1972. Doch ich hab nur noch ein paar Zähne, meine Familie hat mich verlassen, alle sind sie weg und ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich an die Wand starre und von der nächsten Tube träume … Ist es das wert?“ Trotzig trank er sein Bier aus und verschwand daraufhin in seinem Zimmer, doch seine Worte klangen noch lange in meinem Kopf nach. Ob es das wert ist, das musst du natürlich für dich selbst rausfinden. Doch um dir nochmal die Worte von Gerry Lopez in den Geist zu rufen: „Surfing is a deeply wonderful thing, anytime, anywhere and any way.“

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Einsame Wellen: das Ziel jedes Travellers. Doch wie viele andere Lebensziele bleiben bei dieser Suche auf der Strecke?